Ethik & Wissenschaft

Es könnte im Jahr 2008 gewesen sein, als wir im Sommer, vermutlich im Juni ein Projektmeeting in Finnland hatten. Es war eines der periodischen Treffen in einem EU-Projekt, an dem ich teilnahm. In dem Veranstaltungshotel in Porvoo bei Helsinki gab es zum Frühstück unter anderem frischen Lachs in Scheiben mit Brötchen; frühmorgens Fisch – das hatte ich bis dahin nicht gekannt. Hat super geschmeckt.

Das Hotel lag gleich am Wasser an einem Fjord. Am letzten oder vorletzten Abend gab es ein wenig Socializing mit RemmyDemmy an der Bar. Solche Projekt Meetings haben typisch um die 30 Teilnehmer aus allen möglichen Ländern in Europa. Ich hatte wenig Lust, in die Bar zu gehen und dort Bier zu trinken oder sonstwas zu machen.

Ich zog es vor, mir den Strand anzuschauen. Den hatte ich bisher noch nicht anschauen können. Also  verliess ich abends das Hotel und traf auf dem Weg hinaus zwei ältere, eigentlich alte Kollegen, die ebenfalls wenig Lust auf die Bar hatten. Der eine war ein angesehener schottischer Kollege mit Domizil in der Schweiz, der andere ein namhafter Kollege aus Dänemark.

Wenn ein Deutscher und ein Brite freundschaftlich aufeinandertreffen, so meine langjährige Erfahrung, dann gerät man bald auf das gemeinsame Thema Krieg, entweder 1. Weltkrieg oder 2. Weltkrieg oder beides. Und so entwickelte sich unser Gesprächsthema in Richtung 1. Weltkrieg, als wir weiter schlenderten und bald an den Strand gelangten.

Wir kamen irgendwie auf den Haber-Bosch Prozess für die Ammoniaksynthese zu sprechen, und der vielseitig gebildete Schotte erklärte uns beiden – die Dänen sind eher gar nicht gesprächig und unser Kollege von dort nuschelte und murmelte nur in unvollständigen Sätzen, wo der Brite weit und elegant ausholte – von den Schwierigkeiten, die Fritz Haber’s Ehefrau mit ihrem Mann hatte.

Der umtriebige Professor Haber hatte auch an chemischen Kampfstoffen geforscht und sogar Feldbesuche unternommen, im 1. Weltkrieg. Seine Ehefrau hatte sich irgendwann das Leben genommen. Haber bekam den Nobelpreis in Chemie für seine Ammoniksynthese, welcher über 7 Milliarden Menschen heute ihr Leben verdanken. Denn die Herstellung von Ammoniak aus Wasser und Luft gestattet die Herstellung von dem dringend nötigen Stickstoffdünger, ohne den kein grosses Volk überleben kann.

Und so kamen wir auf die Rolle von Ethik und Wissenschaft in der Rüstungsforschung zu sprechen, wovon Haber ja betroffen war. Unser interessantes Dreiergespräch – meistens dozierte der Brite – wurde ein wenig gestört von lauter Musik, die aus einer HiFi-Anlage tönte, aus einem blauen kleinen Auto, das am Strand parkte. Vor dem Auto waren zwei junge Burschen, Finnen, die Steine über das Wasser am Ufer flippten.

Wir passierten die jungen Burschen wenig beeindruckt und setzten unseren Spaziergang bei angenehmen Wetter in der finnischen Sommerdämmerung fort. Und während wir weiter über Wissenschaft, Ethik und Krieg diskutierten, trafen wir bald wieder auf die beiden Burschen mit dem blauen Auto. Diesmal aber an noch weiter entfernter Stelle. Die Musik aus dem Auto war nun nicht mehr so laut.

Lauter war das Klagen der jungen Männer, die versuchten, ihren Wagen aus dem Ufersand herauszubekommen, denn der Wagen steckte fest. Und so drehten die Räder durch und gruben sich immer tiefer in den Sand. Dem Haarschnitt und den Symbolen auf Kleidung nach zu urteilen, handelte es sich bei den beiden um sogenannte Skinheads.

Die beiden schienen auch nicht mehr ganz nüchtern zu sein, denn der dickere von beiden, ein Glatzkopf, hielt eine Flasche Wodka in der Hand und gestikulierte uns, sein Wagen stecke fest. Wir drei Wissenschaftler zögerten nicht lange und drängten geradezu unsere Hilfe auf. Immerhin handelte es sich hierum ein praktisches Problem. Wir drei arbeiteten zwar an den angesehensten Hochschulen Europas und hatten die Theorie voll im Griff – aber wir waren Praktiker und Problemlöser.

Es war damit Teil in unserer DNA, hier vor Ort helfen zu wollen, und wenn es sich nur um ein im Sand steckengebliebenes Auto handelte. Wir schoben an der Karosserie, aber ohne Effekt. Wir wechselten uns untereinander ab, auf dem Fahrersitz Platz zu nehmen und versuchten, durch Fahrkunst aus dem Sand zu kommen.

Als ich an der Reihe war, bemerkte ich, dass eine bereits leere Flasche Wodka vor dem Beifahrersitz lag. Ich gab meinen beiden Kollegen zu verstehen, dass die Wodkaflasche in der Hand des einen nicht die erste war – und das da schon 0.7 Liter Wodka im Blut der beiden Jungs fliessen würde.

Aber das Autoproblem hatte Vorrang. Wir nahmen die Fussmatte aus dem Auto und legten sie zwischen Reifen und Sand. Bald entdeckten wir im Wald am Strand einen Stapel mit Brettern, Bohlen, und legten die unter die Räder. Wir wetteiferten gradezu, wer die beste Idee oder das beste können hatte bei diesem Problem an finnischen Strand.

Am Ende siegte meine eigene Fahrkunst, indem ich den Wagen auf dem Sand mit gut dosiertem Gas im 1. Gang und Rückwärtsgang ins Schaukeln brachte und schliesslich genügend “Momentum” in Vorwärtsrichtung” hatte, dass ich den Kleinwagen langsam aus dem Sand nach oben Richtung Schotterweg bugsieren konnte.

Der dicke Glatzkopf war ausser sich vor Freude und bot mir den letzten Schluck aus der Fasche an, was ich freundlich ablehnte. Ich hatte abends ja noch nicht einmal Bier an der Bar gewollt. Wo der Skinhead erfuhr, dass ich Deutscher war, fiel er mir um den Hals und herzte mich.

Als sein Freudentanz sich gelegt hatte, stiegen beide Skinheads ins Auto ein und setzten ihre Fahrt fort. Wir sahen noch, wie sie auf die Asphaltstrasse gelangten und dann mit hoher Geschwindigkeit Richtung Helsinki düsten.

Es war der Uhrzeit nach bereits sehr spät, aber in Finnland wird es nachts nicht dunkel, wenn Juni ist. Nachdenklich wandte ich mich meinen beiden älteren Kollegen zu, noch unser Gespräch von Wissenschaft und Ethik im Gedächtnis, und meinte: “Did it just occur to you that we put two completely drunk right wing skinheads back on the road?

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